Buchtipp: Julia Peglow – Wir Internetkinder
Theoretisch wissen wir: Digitalisierung ist mehr als das Einscannen von Papierdokumenten. Doch was bedeutet die Digitalisierung für uns wirklich? Wie hat der Siegeszug des Digitalen unsere Welt verändert – und damit unser Leben?
Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich liebe mutige Buchtitel. Und als ich diesen gelesen hatte, war ich schon überzeugt: Wir Internetkinder. Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation.
Gigantisch!
Die Autorin Julia Peglow ist als Kind der 70er so alt wie das Internet selbst. Als Kommunikationsdesignerin programmierte sie in den 90ern während des Studiums erste interaktive Anwendungen und begann zusammen mit anderen abenteuerlustigen Digitalpionieren, den virtuellen Raum für sich zu erkunden. Nach zwanzig Jahren Arbeit in der Kreativ- und Digitalbranche, in denen ihr zunehmend der Sinn verloren ging, zog sie 2018 die Reißleine, begab sich hinaus aus dem Diktat ihres Digitalkalenders, kündigte ihren Job und begann nachzudenken.
„Wie findet man im digitalen Zeitalter Antworten auf große Fragen? Wir haben uns so daran gewöhnt, reflexartig zu googeln, wenn wir Dinge nicht wissen oder schnell eine Information brauchen, dass wir das vergessen haben.“
– Julia Peglow
Als Aussteigerin geht Peglow dem Digitalzeitalter auf den Grund – sie möchte verstehen, was mit uns passiert ist in diesen rauschhaften Jahren der technischen Innovation. Sorgsam spürt sie den digitalen Strukturen nach, die längst nicht nur den virtuellen Raum prägen, sondern in alle Bereiche unseres Lebens vorgedrungen sind: in unseren Alltag, unsere Freizeit, unsere Arbeit.
Was die Digitalisierung für uns bedeutet
Wenn wir Digitalisierung hören, denken wir oft daran, wie analoge Prozesse durch technische ersetzt werden: Früher schickten wir Briefe – jetzt schreiben wir Mails. Früher besprach man sich im Meeting-Raum, heute treffen wir uns via Zoom. Der Grundgedanke dahinter: Die Welt ist immer noch dieselbe, nur die Werkzeuge sind jetzt moderner.
Doch das ist nicht nur eine krasse Verkürzung, wie uns Peglow in Wir Internetkinder zeigt – es ist auch ein folgenschwerer Irrtum. Denn das Internet und seine digitalen Anwendungen sind absolut keine reinen technical devices – genauso wenig wie unsere Smartphones einfach Arbeitsinstrumente sind oder soziale Medien reine Kommunikations-Tools.
Digitale Anwendungen haben nicht einfach analoge Prozesse in digitale übersetzt. Nein, sie haben sie gänzlich umgeschrieben – und sie haben die Regeln verändert, nach denen unsere Welt funktioniert. In vielen Bereichen haben sie die Logik sogar gänzlich umgekehrt: Heute sind es die Algorithmen, welche die Regeln diktieren – und wir müssen folgen.
„Unser Denken, diese elementare, lineare, menschliche Tätigkeit, wurde gehackt – von den Algorithmen, die wir selbst entwickelt haben.“
– Julia Peglow
In dieser digital bestimmten Welt finden wir Menschen uns allzu häufig als Marionetten wieder – getrieben von unseren ausgebuchten Kalendern, einem notorisch überquellenden E-Mail-Postfach und unseren unwiderstehlichen Social-Media-Feeds. Was uns dabei verlorengeht, ist schlicht – der Sinn, und die Fähigkeit, einmal innezuhalten und uns klarzuwerden, was wir eigentlich wollen.
In Wir Internetkinder wagt sich Peglow tief in das Digitaldickicht hinein. Sie untersucht Unternehmensstrukturen, erforscht die Wirkweise und Mechanismen sozialer Medien und hinterfragt die Auswüchse digitaler Arbeitsweisen. Sie folgt dem tiefen Riss, der die digitale Generation von der analogen trennt – und der sich quer durch unsere Gesellschaft und unsere eigenen Köpfe zieht.
Neues Denken – neues Leben
Und schließlich entdeckt Peglow das eigenständige Denken als zutiefst menschliche Fähigkeit wieder, die wir im Digitalzeitalter gründlich verlernt haben. Sie beschließt, dem eigenen Denken wieder Raum zu geben – indem sie ihm Zeit gibt. Sie verabschiedet sich von der Google-Suche und folgt der jahrhundertealten Bücherspur.
Und es bleibt nicht bei hohler Theorie: In ihrem Buch lässt uns Peglow an ihrer persönlichen Reise teilhaben, die nicht bei ihrem Denken haltmacht, sondern Schritt für Schritt ihr Leben verändert – hin zu einem Alltag, in dem Muße, Kreativität und echter, menschlicher Austausch endlich den ihnen gebührenden Stellenwert erhalten.
Dabei ist Peglow in Wir Internetkinder weit davon entfernt, drögen Digitalpessimismus zu betreiben. Ihr Buch ist eine Einladung, uns wieder unserer Sinne zu bedienen, die Augen für unsere Realität zu öffnen und sie selbstbestimmt zu gestalten: sinnhaft, schöpferisch und zutiefst menschlich. Um den digitalen Raum wieder als Chance zu begreifen – eine, die wir nutzen und entscheidend prägen können.
Ich konnte das Buch kaum weglegen, so sehr hat es mich gefesselt. Es ist eine Schatzkiste an Buch: gedanklich brillant, sprachlich virtuos und traumhaft schön in der Gestaltung. Ein Buch, das man wieder und wieder lesen möchte.
Also: Fangt an zu lesen – und zu denken!
Das Buch
Julia Peglow: Wir Internetkinder. Vom Surfen auf der Exponentialkurve der Digitalisierung und dem Riss in der Wirklichkeit einer Generation. Erschienen 2021 im Verlag Hermann Schmidt. 304 Seiten.
In Sachen Transparenz
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