Buchtipp: Susan Cain – Still
Laut kommt an. Was aber ist mit stillen Menschen, die den Rückzug mehr lieben als das Wortgefecht und gründliches Nachdenken mehr als ungestüme Tatkraft? Susan Cain hat ihnen nachgespürt – und über ihre Erkenntnisse ein faszinierendes Buch geschrieben.
Wir Menschen sind alle verschieden, in den Details gleicht kein Leben dem anderen. Dennoch gibt es Faktoren, die uns alle unweigerlich sehr stark prägen: unser Geschlecht beispielsweise, unsere Herkunft – und die Frage, ob wir eher extravertierte oder introvertierte Menschen sind.
Dabei können wir erst einmal ganz grundlegend sagen: Extraversion bedeutet, sich nach außen zu orientieren – zu anderen Menschen und äußeren Erlebnissen. Introversion bedeutet eine vermehrte Hinwendung zum inneren Erleben – zu Gedanken und Gefühlen.
Anders gesprochen: Die extravertierte Person tanzt auf der Party in der Mitte und genießt es, alle Blicke auf sich zu ziehen, während die introvertierte Person am Rande eben jener Party darüber nachdenkt, wie sinnvoll es war herzukommen, wie sinnvoll das Konzept Party überhaupt ist, und wie viel lieber sie jetzt zu Hause wäre – bei einer Tasse Tee und einem guten Buch.
Natürlich sind solche Beschreibungen fürchterliche Klischees: Sie dienen nur dazu, das Spektrum zu skizzieren, in dem wir uns bewegen. Der Punkt ist: Ob wir gerne in der Mitte tanzen, beim Meeting oft das Wort ergreifen oder uns lieber konzentriert unserer Tabellenkalkulation widmen und unseren Geburtstag eingekuschelt auf der Couch verbringen – das hängt wesentlich davon ab, wie introvertiert oder extravertiert wir sind.
Die Erkenntnis, dass es starke Unterschiede in der persönlichen Veranlagung gibt, ist absolut nicht neu. In ihrem Buch Still. Die Kraft der Introvertierten führt die Autorin Susan Cain jedoch ihre Beobachtung aus, dass es in ihrer Kultur – das sind die USA – weit verbreitet ist, Extraversion als Ideal anzusehen, während die Merkmale introvertierter Menschen als defizitär gelten.
Das hat vielfältige Folgen: Introvertierte Menschen haben oft ein sehr negativ geprägtes Selbstbild und hadern mit ihrem Verhalten, das sie am extravertierten Ideal messen. Doch nicht nur sie selbst schätzen sich so ein: Im Arbeitskontext werden sie für weniger kompetent und ihre Meinung für weniger relevant gehalten.
„Wir leben in einem Wertesystem, das vom Ideal der Extraversion geprägt ist – dem allgegenwärtigen Glauben, der Idealmensch sei gesellig, ein Alphatier und fühle sich im Rampenlicht wohl.“
– Susan Cain
Doch woher kommt diese Einschätzung? Während zurückgezogene Denker und gelehrige Kontemplative zu vielen Zeiten in ihren Kulturen hochgeschätzt waren, scheinen wir in einer Zeit zu leben, in der Zurückhaltung, Zweifel und gründliches Nachdenken als lästig und unnötig angesehen werden. Sie halten auf, bremsen.
Susan Cain hat sich für Still auf die Suche begeben, nach den Ursprüngen und Auswirkungen dieses Ideals der Extraversion. Über Jahre reiste sie quer durch die USA, vertiefte sich in Forschungsergebnisse und sprach mit hunderten von Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsbereichen.
Dabei herausgekommen ist ein beeindruckend breites Panorama: von den komplexen biologischen und psychologischen Zusammenhängen unserer Veranlagung, über die historische Entwicklung unserer Ansichten über den Idealmenschen bis hin zu den Auswirkungen eben jener Ansichten auf die heutige Gesellschaft und unser Privatleben – in jeden Bereich taucht die Autorin mit gründlicher Tiefe und faszinierender Anschaulichkeit ein.
So begleiten wir Cain beispielsweise auf den Campus der Harvard-Universität, auf dem Extraversion als die entscheidende Zutat zum Erfolg gilt und die Studierenden sich mit betont souveränem Auftreten und offensiv zur Schau gestellter Wortgewandtheit gegenseitig auszustechen versuchen – und erfahren, wie introvertierte Studierende mit diesem Druck umgehen und welche Maßnahmen sie ergreifen, um ihre Veranlagung zu verstecken.
Oder wir folgen der Autorin auf eine Veranstaltung der Saddleback Church, der größten Evangelikalen-Kirche der USA, die sich den idealen Christen als extravertierten Missionar vorstellt, und lernen dabei einen introvertierten Priester kennen, der inmitten eines euphorisierenden Gottesdienstes voll enthusiastischer Halleluja-Rufe vergeblich einen Moment der Kontemplation zu erhaschen sucht und im Alltag damit kämpft, seine Berufung im Einklang mit seiner Veranlagung zu leben.
Durch die Recherchen, ihre Reisen und die unzähligen Gespräche werden für Susan Cain zwei Dinge deutlich sichtbar: Der enorme Druck, unter dem viele Introvertierte stehen, in dem Versuch, sich an ein fremdes Ideal anzupassen. Und der innere Reichtum dieser Menschen, der ganz offen zutage tritt, wenn sie ihr Leben so gestalten, dass es ihnen und ihrer Veranlagung entspricht.
„Einige unserer größten Ideen, Kunstwerke und Erfindungen stammen von stillen und feinsinnigen Menschen, die es verstanden, in sich hineinzuhören und die Schätze, die in ihrem Innern lagen, zu heben.“
– Susan Cain
Susan Cains Ausführungen beziehen sich auf die USA, die sie für eine der extravertiertesten Nationen der Welt hält. Und auch wenn sich ihre Beobachtungen sicher nicht vollständig auf deutsche Verhältnisse übertragen lassen, sind die Mechanismen, die sie aufdeckt, für uns genauso aufschlussreich – und geben zu denken.
Denn auch für unsere Gesellschaft ist es wesentlich, dass wir unsere Unterschiedlichkeit erkennen und schätzen lernen: in der Arbeit, in der Politik und in unseren privaten Beziehungen. Dass wir die Vorzüge der einen Veranlagung erkennen, ohne die der anderen abzuwerten. Und dass wir verstehen, wie wir selbst ticken, und entsprechend damit umgehen.
Dann schaffen wir Platz für die befreiende Erkenntnis, dass wir in unserer Welt beides brauchen: den inneren Reichtum introvertierter und die nach außen drängende Tatkraft extravertierter Menschen.
Das Buch
Susan Cain: Still. Die Kraft der Introvertierten. Erschienen 2013 im Wilhelm Goldmann Verlag (deutsche Ausgabe). 464 Seiten.
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