Exkurs: Wofür brauchen wir noch Philosophie?

Die Philosophie fristet in unserem Alltag ein trauriges Schattendasein: zu theoretisch, um relevant zu sein? Höchste Zeit, das zu ändern!

Lebensnah philosophieren: Mit guten Büchern Philosophie in den Alltag holen.

Eine Einladung zum Umdenken

Die Philosophie verfolgt unserer Tage ein hartnäckiges Vorurteil: Sie wird als zu theoretisch, lebensfremd und abgehoben beurteilt. Und wisst ihr was? Die Philosophie hat selbst viel für dieses Vorurteil getan: mit endlos langen, verschwurbelten Texten, die kaum jemand versteht, und mit dem Wieder- und wiederkauen extrem abstrakt-theoretischer Fragestellungen.

Das ist an und für sich kein Problem. Denn das Herumwerkeln an komplexen Gedankenkonstrukten hat durchaus seinen Reiz und seinen Wert. Aber für viele Menschen bedeutet die Komplexität und Theorielastigkeit der Philosophie, dass sie ihnen unzugänglich bleibt. Philosophie ist etwas für verkopfte Menschen – dieser Glaubenssatz bleibt hängen.

Und das ist ein Problem.

Denn wenn wir das Philosophieren aus unserem Alltag verbannen, verschwindet gleichzeitig das Denken – eines, das sich nicht mit schnellen Antworten abspeisen lässt, sondern eines, das die tiefere Bedeutung unseres Seins fokussiert.

Ich bin überzeugt davon, dass wir auf diese tiefere Bedeutungsebene nicht verzichten können – keiner von uns. Wir brauchen Philosophie. Damit das gelingt, können wir als erstes unsere Haltung ihr gegenüber ändern und sie herauslocken aus der Ecke rein intellektuellen Theorisierens – hinein in unser Leben. 

Die Philosophie des Alltags

Wie holen wir Philosophie in den Alltag? Meiner Meinung nach entsteht Philosophie immer dann, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit aus den alltäglichen Verrichtungen herauslösen und anfangen, sich über das Leben Gedanken zu machen. So gesehen sind Philosophie und das alltägliche Leben gar keine getrennten Bereiche, sondern unlösbar miteinander verwoben.

Wir müssen Philosophie also streng genommen gar nicht in unseren Alltag hereinholen – wir müssen sie nur darin entdecken. 

Philosophie: vom User-Interface zum Quellcode

Philosophie entsteht im Kern also schon dann, wenn wir Alltagsphänomene bewusst wahrnehmen, über sie sprechen und nachdenken, sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Philosophie hat dabei eine bestimmte Zielrichtung: Sie versucht, immer auch das zu ergründen, was hinter der Maske der reinen Alltagsphänomene liegt – also die verborgenen Strömungen, Motivationen und Denkmuster zu erkennen.

Damit widmet sie sich quasi dem Quellcode unseres Lebens. Unser Alltag ist wie das technische User-Interface eines Programms – die Oberfläche, die dem Benutzer angezeigt wird. Sie enthält Buttons, Ankreuz-Kästchen und Felder zum Ausfüllen.

Solange wir uns gedankenlos auf der Ebene des Alltags bewegen, bedienen wir immer nur das User-Interface, das andere für uns entwickelt haben und dessen Möglichkeiten stark begrenzt sind. (Nur so: Versucht doch einmal, in einem Online-Formular einen Text neben ein Feld zu platzieren – oder zum Ankreuzen ein Herz zu verwenden, statt eines Häkchens. Keine Chance!)

Wer Philosophie betreibt, taucht unter die Oberfläche der Bedienmaske und sieht sich die Beschaffenheit des dahinterliegenden Codes an. Wie ist dieses Programm aufgebaut? Nach welchen Regeln funktioniert es? Welche Logik liegt dahinter? Und bin ich mit dieser Logik überhaupt einverstanden?

Nur wer die Programmierung versteht, kann sich mit ihr bewusst auseinandersetzen – und sie ändern.

Philosophie holt uns aus der Lebens-Automatik

Das Denken und Philosophieren erweist uns damit einen großen Dienst: Es holt unser Leben aus dem Modus automatisierten Handelns heraus, dessen Regeln andere für uns entworfen haben.

Unsere Zeit ist von rasanter Geschwindigkeit gekennzeichnet, in der eine Richtung vorherrscht: blind vorwärts. Ob sich dies im schwindelerregenden Tempo der technischen Entwicklung manifestiert, in dem sekundenschnellen Zugriff auf jedwede Information oder in dem gnadenlosen Rhythmus, in dem wir unsere Termine aneinanderreihen – in jedem Bereich unseres alltäglichen Lebens begegnen wir atemloser Hetze.

Der Punkt ist: All das haben wir uns nicht ausgesucht. Zumindest nicht bewusst.

Doch wir können mithilfe von philosophischem Nachdenken diese gedankenlose Schnelle unterbrechen. Das zu tun, ist keine Rolle rückwärts, wie viele meinen, sondern eine Bewegung nach unten, in die Tiefe. Wer sich hinsetzt, um nachzudenken, unterbricht die alltäglich dahinschießende Zeit mit einem Ruhepunkt, an dem wir Tiefenbohrungen ansetzen können: das Fragen und Forschen nach den großen Fragen unseres Seins. Und nach der Richtung unseres Lebens.

Philosophie betrifft jeden – und alle

Will ich das eigentlich? Diese Frage begegnet allen, die – freiwillig oder durch Schicksalsschläge ausgelöst – aus dem Alltagstrott fallen. Darin verbirgt sich für mich die Kernfrage lebensnahen Philosophierens: Wie wollen wir leben?

Wie wollen wir leben – und was bedeutet das für unsere alltäglichen Entscheidungen?
Was müssen wir über uns selbst wissen, um leben zu können, wie wir leben wollen?
Und wie muss eine Gesellschaft beschaffen sein, in der wir leben können, wie wir leben wollen?
— Grundfragen alltagsphilosophischen Denkens

Wir können diese Fragen auf verschiedenen Ebenen stellen: jeder für sich, auf der Ebene des eigenen Lebens, und wir gemeinsam, als Gesellschaft. Dabei sind beide Ebenen nicht voneinander zu trennen.

Denn die Frage, wie jeder einzelne eigentlich leben möchte, ist unlösbar damit verbunden, wie wir als Gesellschaft leben wollen. Die Art und Weise, wie wir persönlich darauf antworten, wirkt auf die Gesellschaft ein. Genauso wie die Antworten, die wir als Gesellschaft geben, sich auf das Leben jedes Einzelnen ausschlagen.

Philosophie ist also nie etwas, das nur mich selbst betrifft. Im Gegenteil: Philosophie nimmt gerade das in den Blick, was uns alle angeht – die gemeinsame Wirklichkeit, die wir Menschen miteinander teilen.

Und wofür brauchen wir jetzt Philosophie?

Wenn wir Philosophie so lebensnah denken, aus der Mitte unseres Alltags heraus, liegt der Schluss nahe, dass wir das, was wir gemeinhin als Philosophie verstehen – nämlich die Theorien und Texte überschlauer Menschen – gar nicht brauchen.

Das stimmt zum Teil: Wer über sein Leben nachdenken will, braucht dazu nur den eigenen Kopf. Und doch ist das nicht ganz richtig: Denn wer nur den eigenen Kopf benutzt, sieht auch nur diese eine Perspektive.

Philosophische Gedanken anderer Menschen helfen uns, den Standpunkt zu wechseln, einen anderen Blickwinkel zu wählen, die Welt durch eine andere Brille zu sehen. Durch die Beschäftigung mit Beobachtungen und Theorien, die andere gemacht und aufgestellt haben, wird unser Bild facettenreicher, differenzierter und – geben wir es zu – sehr viel interessanter.

Wenn es uns dann gelingt, die Philosophie – unsere eigenen Gedanken sowie die anderer Leute – in konkretes Leben, in Taten und Handlungen zu übersetzen, dann befinden wir uns mitten in einem fruchtbaren Kreislauf aus wertvollen Einsichten, die uns neue Erfahrungen ermöglichen – und wertvollen Erfahrungen, aus denen wir neue Einsichten gewinnen.

Wofür wir Philosophie also brauchen?

Ich sage: für ein Leben, das diesen Namen verdient.

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