Buchtipp: Wolfgang Herrndorf – Arbeit und Struktur

Was passiert, wenn wir unsere Sterblichkeit plötzlich mit Händen greifen können? Wenn eine unheilbare Diagnose unser Leben aus den Fugen bringt? Herrndorf hat es aufgeschrieben. Und ich habe es gelesen. Eine Zeitreise.

Buchtipp: Wolfgang Herrndorfs "Arbeit und Struktur"

Berlin-Kreuzberg, November 2012

Als junge Bachelorstudentin bin ich drei Monate als Praktikantin bei Rowohlt.Berlin zu Gast, in dem Verlag, in dem Wolfgang Herrndorfs Werke erscheinen. Zu meinen Aufgaben gehört das Erstellen der monatlichen Presseschau, die den Autorinnen und Autoren des Hauses übersichtlich zusammenträgt, was in den klassischen Printmedien über sie gesagt wird.

Das ist keine große Aufgabe: Ich kopiere die Artikel aus einer internen Verlagsseite zusammen – eine reine Fleiß- und Klickarbeit. Über Wolfgang Herrndorf wird viel geschrieben. Doch ihm, so erhalte ich die Anweisung, brauche ich als einzigem die Übersicht nicht schicken. Ich frage nicht nach, was das zu bedeuten hat.

Während ich bei Rowohlt.Berlin an meinem Praktikumsschreibtisch sitze, ist Herrndorf schon todkrank. Er hat Krebs – einen aggressiven Hirntumor mit dem Namen Glioblastom. Als Herrndorf im März 2010 seine Diagnose erfährt, ist er 45 Jahre alt. Die ihm prognostizierte verbleibende Lebenszeit: 3 Monate bis 1 Jahr.

Zum Zeitpunkt der Diagnose ist Herrndorf bereits als Schriftsteller unterwegs. Er lebt in Berlin und hat einen Roman und einen Sammelband mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Kritiker loben sein Talent, in der Öffentlichkeit jedoch ist er noch weitgehend unbekannt. Mehrere Ideen für weitere Romane schlummern in seiner Schublade, doch er schafft es nicht, diese entschlossen anzugehen und zu finalisieren. Das wird sich bald ändern.

„Ich habe mich in immer neuem Material verloren, im jugendlichen Bewusstsein, noch ewig zu leben.“

Nach der Diagnose startet Herrndorf einen Blog im Internet. Der Zugang ist beschränkt: Herrndorf schreibt nur für seine Freunde und Bekannte – eine bequeme Lösung, sie alle über seinen Zustand auf dem Laufenden zu halten. Doch bald ist klar: Dieser Blog ist weit mehr als ein Informationsmedium. Die Beiträge sind von solch literarischer Qualität und damit von öffentlichem Interesse, dass der Blog geöffnet wird. Er ist nun frei zugänglich. Über einen Zeitraum von über drei Jahren kann die deutsche Öffentlichkeit nahezu live an Herrndorfs Schicksal teilhaben. 

Auch abseits des Blogs entwickelt Herrndorf eine enorme Schreibtätigkeit. Er kramt seine angefangenen Projekte heraus; von mangelnder Entschlossenheit kann keine Rede mehr sein. Sein Mantra gegen Verzweiflung und Todesangst: Arbeit und Struktur.

„Könnte man leben, wenn man nur noch drei Monate hat? Nur noch einen Monat? Ich werde noch ein Buch schreiben, sage ich mir, egal wie lange ich noch habe. Wenn ich noch einen Monat habe, schreibe ich eben jeden Tag ein Kapitel.“

Und es bleibt nicht bei einem Buch. Bis zu seinem Suizid im August 2013 veröffentlicht Herrndorf die Romane Tschick und Sand. Mit Tschick wird er schlagartig bekannt. Das Romanfragment Bilder deiner großen Liebe wird posthum veröffentlicht, ebenso wie der Blog Arbeit und Struktur in Buchform – beides auf ausdrücklichen Wunsch des Autors.

Herrndorf schrieb in seinen letzten Jahren die Bücher Tschick und Sand.

Berlin-Mariendorf, November 2015

Ich bin immer noch Studentin, mittlerweile im Master meines Literaturstudiums. Meine Tochter ist etwas über ein Jahr alt. Sie geht noch nicht in den Kindergarten, doch ich habe mich entschieden, dieses Semester wieder einen Kurs zu belegen – den letzten, der mir noch fehlt. Es ist ein Colloquium mit meinem Professor zur Vorbereitung auf meine Masterarbeit. In einer Runde von zehn, zwölf Studierenden sollen wir unsere Forschungsthemen vorstellen, sie miteinander diskutieren und Verbesserungen erarbeiten. Meine Präsentation ist im Januar und ich brauche dringend ein Thema.

Ich bin in einem fragilen Zustand. Ich habe eine schwere Schwangerschaft, eine schwere Geburt und ein schweres erstes Jahr mit Kind hinter mir. Ich bin erschöpft und habe Mühe, den Kopf über Wasser zu halten.

Mir fällt >Arbeit und Struktur< als Buch zum wiederholten Mal in die Hände. Es ist ein wahnsinnig interessanter Text, das ist mir klar. Doch ich umschleiche das Buch wie ein gefährliches Raubtier. Hirntumor, Epilepsie, Suizid – sind das die Themen, mit denen ich mich jetzt beschäftigen möchte?

Ja, ich habe eine Heidenangst, Herrndorf zu lesen. Dann tue ich es trotzdem. 

„Ich habe das Fenster weit geöffnet, und der Sturm rüttelt an meiner Tür. Ich stelle mir vor, mit meinem Bett in einem sehr hohen, schlanken Ziegelturm des Klinikums zu liegen, umgeben von schwarzer Finsternis und unendlicher Leere des Weltalls, und die Naturgewalten rütteln an meinem Turm und können nicht herein. Nicht in der winzigen Sekunde der Gegenwart, in der ich unantastbar bin.“

Herrndorf lässt uns in Arbeit und Struktur an allem teilhaben: an seinem Schmerz, seiner Furcht, seiner Wut und politischen Ressentiments. Am körperlichen Verfall, den erschreckenden Erfahrungen der Epilepsie und der Auflösung seines Ichs, am fortschreitenden Verlust seiner Sprache und Identität, am Verlust seiner gesamten Wirklichkeit. Ja, das ist keine leichte Lektüre. Doch da ist noch mehr. 

Wir lesen von Freundschaft und Verbundenheit. Von der Suche nach echtem Leben und der Verweigerung, sich mit billigen Tröstungen abzufinden. Von Momenten einzigartiger Schönheit, dem ansteckenden „Vitalismus einer Krawallspatzenwolke“, und vom Ankommen in einer radikal gelebten Gegenwart.

Und zwischen all diesen Erfahrungen glüht eine tiefe Liebe zur Literatur durch. Nach Herrndorf ist das Besondere an Literatur,

„dass man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen […] und dass es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zu viel gelesen habe.“

Der Trost von Arbeit und Struktur besteht nicht im Schönreden dieser gewaltsamen Krankheitserfahrung, nicht darin, ihr einen wie auch immer gearteten Sinn zu geben oder darin, dem extremen Leid durch die Fokussierung aufs Positive zu entgehen.

Der Trost dieser Erzählung besteht darin, dass der erlittene Schmerz hier einen Ausdruck findet. Einen kraftvollen, zutiefst menschlichen sprachlichen Ausdruck von hinreißender literarischer Schönheit. Ich muss Herrndorfs Weltbild nicht teilen, um mich davon berühren zu lassen.

 

Berlin-Mariendorf, heute.

Ich trete an mein Bücherregal und greife mir >Arbeit und Struktur< heraus. Es hat nach wie vor einen zentralen Platz dort, auf Augenhöhe, sodass Gäste es oft herausziehen und mich danach fragen. Das ist Absicht. Während ich vor meinem inneren Auge Revue passieren lasse, an welchen Stellen in meinem Leben mich dieser Text schon begleitet hat, wird mir gleichzeitig klar, wieviel sich geändert hat. Wieviel ich in diesen Jahren erlebt und überstanden habe. Wieviel ich dabei gewonnen habe. Und es flutet Dankbarkeit auf.

 

Die Zitate stammen aus:

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Erschienen 2013 im Rowohlt.Berlin Verlag. 445 Seiten.

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