Buchtipp: Mason Currey – Daily Rituals
Wie entsteht ein Kunstwerk? Unter welchen Bedingungen arbeiten Künstlerinnen? Und woher beziehen sie ihre Inspiration? Ein Buch über die verborgene Seite der Kunst: ihre Entstehung im Alltag.
Die Illusion des Geistesblitzes
Wenn wir uns mit kreativen Menschen beschäftigen, bewundern wir gerne das Werk, das sie uns präsentieren oder das uns aus alten Zeiten überliefert ist. Dass ein Werk dabei nicht einfach vom Himmel fällt, ist uns theoretisch klar. Dennoch hegen wir, seien wir ehrlich, klammheimlich so manche romantische Vorstellung davon, wie künstlerische Inspiration und Kreation vonstatten gehen: magische Geistesblitze, rauschhafte Kreationsexzesse, die einen so profane Notwendigkeiten wie Nahrungsaufnahme und Toilettenbesuch vergessen lassen, und – natürlich – die Gegenwart einer Muse (ach, wenn man doch eine hätte!).
Die andere Seite der Medaille: Die Entstehung von Kunst im Alltag
Die Realität sieht in den meisten Fällen ganz anders aus. Und an diesem Punkt setzt Mason Currey mit seinem Buch an: Im Fokus seiner Betrachtung steht nicht das außergewöhnliche Werk, sondern der alltägliche Prozess des Schaffens, Kreierens, Arbeitens von kreativen Geistern. Das sind die täglichen Rituale, die vielen tausend kleinen Schritte, die es zu gehen gilt, bis am Ende das große Außergewöhnliche steht.
„Gewohnheiten verändern das Gesicht unseres Lebens schrittweise, so wie die Zeit unser physisches Gesicht verändert; und wir bemerken es nicht.“
Das ist so klar, dass wir es meistens übersehen: Der Entstehungsort des Großen, Außergewöhnlichen ist schlicht der Alltag. Das sind die vielen kleinen Nischen, die sich Kunstschaffende im Alltagsrummel bauen. Das ist jedenfalls nie einfach nur: Die Zeit, die übrig bleibt, wenn alles andere erledigt ist. Wenn sonst nichts mehr zu tun ist. Nein, die Arbeit an einem Werk setzt voraus, dass dieses in irgendeiner Form im Alltag einen festen Platz hat.
Und wie entsteht Kunst nun konkret?
Welche täglichen Routinen verfolgen Künstler und Künstlerinnen, woher ziehen sie ihre Inspiration und wie bringen sie ihre Arbeit mit den Erfordernissen des alltäglichen Lebens zusammen?
Mason Currey skizziert in Daily Rituals die Alltagsroutinen, Arbeitsweisen und Inspirationsquellen von sage und schreibe 143 Künstlerinnen (wenn ich mich nicht verzählt habe!). Jeder Frau ist eine kurze Passage gewidmet, die je nach Quellenlage eine halbe Seite bis zwei Seiten lang ist. Wie stimmte sich Nina Simone auf ein Konzert ein? Welche Arbeitsmoral legte Coco Chanel an den Tag? Wie organisierte Natalia Ginzburg sich und die Betreuung ihrer Kinder? Und wie bewältigte Susan Sontag ihr Pensum?
Für mich ist das Eintauchen in diese Vielzahl von weiblichen Lebenswelten aus den verschiedensten Epochen, Ländern und Kunstrichtungen enorm spannend – und ich gebe zu, dass ich längst noch nicht alle gelesen habe. Besonders faszinierend ist, wie manche Künstlerinnen mit ihren teils starken Begrenzungen umgingen und aus ihnen etwas machten.
Frida Kahlo malte nach einem tragischen Unfall während ihrer langwierigen Genesung vom Bett aus auf einer eigens für sie angefertigten Staffelei.
Die Filmemacherin Agnès Varda setzte nach der Geburt ihres zweiten Kindes ihre Bindung an das häusliche Umfeld kurzentschlossen als filmisches Stilmittel ein: Sie schoss ihren Film Daguerréotypes in einem Radius von 80 Metern rund um ihr Haus. 80 Meter – so lang war das Kabel, das bei ihr zu Hause in der Steckdose steckte und das ihren Wirkungsradius bestimmte.
Die Lebenswelten der vorgestellten Frauen könnten dabei nicht unterschiedlicher sein: Vom Schwelgen in überschäumenden Luxus bis zum Überlebenskampf in bitterer Armut, von exzessivem Rauschmittelkonsum zu eiserner Disziplin, hinüber zu den vielen Spielarten kreativer Leidenschaft – alle diese Gegensätze sind hier versammelt. Und so unterschiedlich die vorgestellten Frauen, ihre Lebenswelten und Charakterzüge auch sind, eines haben sie alle gemeinsam: Sie hörten einfach nicht auf, an ihrer Sache zu arbeiten.
Daily Rituals ist sicher kein Buch, dass man von vorne bis hinten einmal durchliest – es ist auch gar nicht dafür gemacht. Es ist eher ein Buch, das man immer wieder wahllos aufschlägt, um darin zu stöbern. Oder in dem man gezielt nach einer Künstlerin sucht, die man schon lange faszinierend fand, um ihr bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.
Was ich aus diesem Buch mitnehme, ist vor allem die Erkenntnis, dass es nicht den einen Weg gibt, auf dem Kreatives entsteht. Und für mich ganz wichtig: Es entlarvt den Mythos, dass wir erst die perfekten Umstände erschaffen müssen, um überhaupt etwas erschaffen zu können. Im Gegenteil: Die Kunst ist, den Alltag mit den vorhandenen Vorgaben so auszurichten, dass die Kreation darin Platz hat – etwas, was uns wirklich am Herzen liegt. Und dann entsteht etwas, Stück für Stück – wie es die Umstände eben zulassen. Etwas Großes, manchmal. Etwas Neues, wahrscheinlich. Etwas. Und das ist in jedem Fall mehr als nichts.
Also: Worauf wartet ihr?!
Das Buch
Mason Curry: Daily Rituals. Women at Work. Erschienen 2020 bei Picador. (Auf Englisch.)
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